Aktivitäten und Events, Aktuelles aus unseren Einrichtungen, Fachjournal

Buchtipp: „Deutschland misshandelt seine Kinder“

07.11.2019

von Frances Fuhr

Buchtipp:

Deutschland misshandelt seine Kinder

von Michael Tsokos und Saskia Etzold

Wut, Entsetzen, Verzweiflung, Schock, Ohnmacht – nur eine Handvoll Gefühle, die dieses Buch in einem auslösen.

Auf knapp 300 Seiten veröffentlichten die beiden Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat (jetzt Etzold) im Jahr 2014 ihre Anklageschrift „Deutschland misshandelt seine Kinder“, in der sie durch vielfältige Fallbeispiele und Statistiken darstellen, dass Kindesmisshandlung mitnichten eine Ausnahme darstellt.

Vielmehr vermitteln sie ein Bild vom Alltäglichen, was bestürzt und zum Nachdenken anregt.
Vor allem ist das Buch an die Gerichte, Jugendämter und Kinderärzte gerichtet. Sie werden angeprangert, durch Zynismus und Resignation in Fällen von Kindesmisshandlung falsche Maßnahmen zu ergreifen oder schlichtweg die Augen zu verschließen. Tsokos und Etzold beschreiben sehr detailliert Formen der Kindesmisshandlung und deren Symptome. Sie stellen Forderungen, die aus Sicht der Rechtsmedizin von größter Notwendigkeit sind, um die Opferzahlen von Kindesmisshandlungen, insbesondere die tödlich Endenden, zu minimieren. Sie fordern härtere Urteile der Gerichte gegenüber den Tätern, die leider fast immer die eigenen Eltern oder deren Lebensgefährt*innen sind.

Aber vor allem soll ihr Buch die Augen und Gedanken öffnen. Weg vom „Nein, sowas machen Eltern doch nicht“, „Ach, bei denen kann ich mir das nicht vorstellen“, oder „Sie haben immer eine plausible Erklärung für die blauen Flecken“, hin zu der Einsicht, dass es eine Tatsache ist, dass Kindesmisshandlung existiert und die blauen Flecken oder Schlimmeres eine handfeste Ursache haben.
Als Täter*innen beschreiben sie fast ausnahmslos die Eltern oder deren Lebensgefährt*innen.

Doch was bedeutet das für unseren beruflichen Alltag als Pädagog*innen?

Täglich sehen wir unsere Schützlinge und deren Familien. Müssen wir jetzt bei jeder körperlichen Versehrtheit und deren Erklärung misstrauisch sein?

„Wir Rechtsmediziner treten entschieden für die Rechte der Kinder ein. Das bedeutet aber keineswegs, dass wir die Eltern unter Generalverdacht stellen würden.“
(Tsokos; Guddat 2015, S. 132)

Einen Generalverdacht wollen die Autoren mit ihrem Buch nicht hervorrufen, aber wachsame Augen und Ohren und die Haltung, sich nicht blenden zu lassen. Vielleicht auch den Mut sich einzugestehen, dass es Eltern gibt, die Kindern aus den verschiedensten Motivationen und Biografien heraus solche Dinge antun.

 

Was ist für uns Pädagog*innen wichtig?

Eine gute Zusammenarbeit mit Eltern ist für eine gelingende pädagogische Arbeit ein Grundbaustein. Oft hört man von „Erziehungspartnerschaft“ und im Sinne des Kindeswohls auch von „Verantwortungsgemeinschaft“. Eltern in ihren Rechten und Pflichten ernst zu nehmen und sie als Experten für ihre Kinder zu sehen sollte unsere Grundhaltung sein.

Doch wie verhält es sich mit der Partnerschaftlichkeit, wenn wir wahrnehmen, dass der eine Partner anscheinend sein Kind misshandelt? Wir können es aber nicht beweisen. Wir sind keine Mediziner. Die Eltern darauf anzusprechen ist für viele vielleicht eine große Hürde. Zu groß sind die Bedenken, dass das Kind das „ausbaden“ muss oder die Täter*innen „gewarnt“ sind und ihre Taten besser vertuschen. Oder, dass unser so gut aufgebautes Vertrauensverhältnis sofort dahin sein könnte.

Grundsätzlich müssen wir alle Anzeichen ernst nehmen und dokumentieren. Bei körperlichen Symptomen im besten Fall durch mindestens eine weitere Kolleg*in.

Ob man die Eltern direkt darauf ansprechen sollte, kann nur im Einzelfall entschieden werden. Dazu sollten nicht nur zeitnahe kollegiale Fallberatungen genutzt werden, sondern auch das Hinzuziehen einer insoweit erfahrenen Fachkraft. Gemeinsam kann der Weg entschieden werden. Elterngespräch, Meldung beim Jugendamt oder doch die direkte Meldung bei der Polizei.

Die Vorgehensweisen und passende Dokumentationsmaterialien oder Hinweise für Elterngespräche im Falle einer Kindeswohlgefährdung finden sich in unserem
SOCIUS Handlungsleitfaden für einen ganzheitlichen Kinderschutz, der dem Wilkommensordner beiliegt. Eine Kurzversion des Handlungsleitfadens und das dazugehörige Infoplakat findet man in unserer Kinderschutz-Rubrik.

Dort gibt es auch alle Kontaktdaten für unser Kinderschutz-Fachteam, an das man sich nicht nur für die notwendige Risikoabschätzung wenden muss, sondern auch zur Vorbereitung von Elterngesprächen oder Nachfragen zu Dokumentation und rechtlichen Schritten wenden kann. Zudem bekommt jede Einrichtung ein Buch zur Verfügung gestellt, um sich mit der Thematik intensiver zu befassen.

„Da es sich bei Kindesmisshandlung um sogenannte Offizialdelikte handelt, müssen die Ermittlungsbehörden tätig werden, wenn sie von dem Verdacht der Kindesmisshandlung erfahren.“
(Tsokos; Guddat 2015, S. 310)

Zusammenfassend ist zu sagen:
Egal, welche Bedenken wir haben und wie der Fall gestrickt ist, wir haben mehrere Möglichkeiten, um dem Kind zu helfen, und wenn es nur durch eine anonyme Anzeige bei der Polizei ist. Dazu sollte sich im Übrigen auch jede Bürger*in im Privaten verpflichtet fühlen.


Filmtipp zum Buch:

Der Film “Stumme Schreie” am 18.11.2019 um 20:15 Uhr auf ZDF und im Anschluss die Dokumentation „Tatort Kinderzimmer

 

toggle bipanav